Der Besuch

"Papa, was wolltest du eigentlich mal werden, als du noch klein warst?"
Diese Frage von meinem Sohn traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich war heute ein einfacher Maler und Lackierer, aber das war es gewiss nicht, was früher in meinen Plänen stand.
"Nun ja, mein Junge, ich wollte immer Lehrer werden", beantwortete ich ihm seine Frage.
"Komisch, dass du das nie erwähnt hast. Warum bist du es nie geworden? Das Studium hättest du doch garantiert geschafft, oder etwa nicht?"
Mein Sohn war sechzehn Jahre alt und er war ein intelligenter Junge. Trotzdem war es mir sehr unangenehm, mit ihm über meine Vergangenheit zu sprechen. Ich hatte mir so viel vergeigt und es tat mir in der Seele weh, daran erinnert zu werden. Irgendetwas sagte mir aber, dass es richtig sei, meinem Sohn zu verraten, warum ich heute nicht da war, wo ich gern gewesen wäre. So fing ich also an, ihm die Geschichte zu erzählen:
"Damals, als ich jung war, wollte ich unbedingt mal ein großer Mann werden. Ich war den ganzen Tag über nach der Schule zu Hause und habe gelernt, weil meine Eltern das so wollten. Ich hatte keine Freizeit und keine Freunde... Irgendwann kam dann aber der Tag in meinem Leben, an dem ich das Gefühl hatte, etwas zu verpassen. Es war mir einfach zu blöd, immer nur zu lernen. Ich wollte unbedingt Freunde finden und neue, coole Dinge ausprobieren. Ich wollte im Moment leben und nicht den ganzen Tag nur an die Zukunft denken..."
"Hast du denn dann Freunde gefunden?"
"Ja, ich habe neue Leute kennengelernt, mit denen ich dann oft draußen war. Sie waren nicht wirklich schlau, aber sie waren für jeden Mist zu haben und kamen auch aus einfachem Hause. Das war es, was ich brauchte, um mich selbst zu entdecken."
"Und wie alt warst du da?"
"Ich weiß es nicht mehr so genau. Aber ich muss in etwa so alt gewesen sein, wie du heute."
"Und was habt ihr da so gemacht?" Mein Sohn fragte das mit einem sehr desinteressierten und ironischen Unterton. Ich überlegte für einen kurzen Moment, ihm die Geschichten doch lieber nicht zu erzählen. Am Ende tat ich es aber trotzdem, weil ich das Gefühl hatte, ihm damit etwas Wichtiges mit auf den Weg zu geben. 
"Das wollte ich dir gerade erzählen. Wir waren quasi kleine Gangster. Meistens haben wir uns getroffen und einfach nur rumgehangen. Wir haben Bier getrunken und geraucht, aber das war nicht so, wie heute. Es war eigentlich normal, dass die Jugendlichen sowas gemacht haben. Heute wird das zum Glück ordentlich kontrolliert. Bei uns ist man damals viel einfacher an Sachen wie Zigaretten oder Alkohol gekommen. Es gab auch eine Menge Discos, in die man reinkam, wenn man noch nicht 18 war. Das wäre heute ja quasi undenkbar."
"Und was ist daran jetzt so schlimm? Das klingt doch wie ganz normaler Kram, den man damals eben gemacht hat."
"Es wurde langweilig. Irgendwann ging uns der Gesprächsstoff aus und wir wollten was machen. Ich erinnere mich noch sehr gut daran. Es war an einem Sonntag und wir waren eine Gruppe von ungefähr zehn Leuten, als plötzlich einer die Idee hatte, zu einem leerstehenden Haus zu gehen. Er meinte, dass es von dort aus möglich sei, auf die ganze Stadt zu schauen, wenn man auf das Dach kletterte. Also sind wir dorthin gegangen und aufs Dach gestiegen. Der Ausblick war echt genial; wir hatten auch eine richtig gute Sicht. Weil es so cool war, sind wir dort eine ganze Weile geblieben und einige von uns haben sich dazu entschieden, spät abends nochmal hinzugehen und eine Runde zu sprayen. Sowas hatte ich bisher nie probiert, also schloss ich mich dem Rest an."
"Echt? Du hast mal sowas gemacht? Das kann ich mir gar nicht vorstellen! Was habt ihr gesprayt?" Damit schien ich nun doch sein Interesse geweckt zu haben. Mein Sohn war sehr interessiert an Streetart. Immer, wenn irgendwo Graffitis zu sehen waren, schien er seinen Blick nicht davon abwenden zu können.
"1953, aber riesengroß. Das konnte man vom Hauptbahnhof aus noch lesen. Es war ein echtes Kunstwerk. Die Zahlen waren natürlich gelb mit einer dicken, schwarzen Umrandung, wie es sich gehört."
"Das ist doch aber richtig cool! Kannst du mir das mal zeigen?"
"Nein, mein Großer. Das Ding wurde entfernt. Irgendwer muss uns gesehen haben und diese Person hat die Bullen gerufen... Als wir das Gebäude schließlich verlassen haben, stand der Streifenwagen schon davor. Wir mussten unsere Ausweise vorzeigen und alles wurde festgehalten. Einer von uns hatte auch noch ein bisschen Gras einstecken und das hat man anscheinend sofort gerochen, denn die Bullen haben dann einen Drogentest gemacht und der fiel natürlich bei jedem von uns positiv aus. Das war richtig scheiße."
"War das da schon so wie heute? Da muss man doch nur Sozialstunden machen oder sowas. Oder gab es großen Ärger?"
"Na aber hallo... Einen Monat später wurde ich angeklagt und musste mich vor dem Gericht verteidigen - genau wie der Rest. Am Ende wurden wir verurteilt für Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und den Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. Zum Glück mussten wir trotzdem nur Sozialstunden ableisten, weil wir alle noch unter 18 waren."
"Das kann ja aber nicht alles sein. Als ob das jemanden interessiert. Du hättest ja Kunstlehrer werden können", grinste er. Auf einmal hatte er wieder diesen desinteressierten Unterton in der Stimme, der mir Sorge bereitete. Irgendwie bekam ich immer mehr das Gefühl, dass es doch nicht die richtige Entscheidung gewesen zu sein schien, meinem Sohn von meinen früheren Missetaten zu erzählen. Er nahm das Ganze zwar mit Humor, aber es kam mir so vor, als ob es ihn nicht wunderte. Es fühlte sich für mich an, als ob er schon viel schlimmere Dinge getan hatte, weil er alles so belächelte.
"Dummerweise gab es noch einen anderen Vorfall. Du kennst ja deinen Heimatverein nur zu gut. Wir waren bei einem Spiel im K-Block und es gab Probleme. Damals hat aber keiner gekniffen und es ist in einer ziemlichen Schlägerei ausgeartet, in der ich beteiligt war. Ich habe einem anderen einen ungünstigen Schlag ins Gesicht verpasst und dann hat dieser Kunde mir gedroht, mich anzuzeigen. Das war mir aber auch herzlich egal. Er hätte ja nicht in den K-Block kommen müssen. Dafür waren wir schließlich bekannt."
"Hat der dich dann nun angezeigt oder nicht?", fragte mein Sohn etwas ironisch.
"Ja, einen Monat später kam ich ganz normal aus der Schule nach Hause und meine Mutter stand schon mit einem Zettel in der Hand vor mir. Sie schien richtig wütend und verzweifelt zugleich. Da war mir schon klar, was passiert ist."
"Hast du gesessen?"
"Zum Glück nicht. Ich sollte Schmerzensgeld zahlen und damit hatte sich die Sache theoretisch geklärt. Leider stand das eben alles auch im Führungszeugnis."
"Und was hat das jetzt mit deinem Beruf zu tun?" Mein Sohn verleierte schon die Augen.
"Durch diese Leute habe ich die Schule damals sehr schleifen lassen. Ich hatte keinen Bock auf lernen. Ich wollte einfach mit denen abhängen und so. Dann bin ich nach der 10. vom Gymnasium runter, weil ich die Oberstufe nicht machen wollte. Das hat mich dann alles viel zu sehr angekotzt. Da hätte ich mich ja wirklich reinhauen müssen und das war mir echt zu doof. Ich wollte lieber Geld verdienen."
"Und warum hast du dein Abi nie nachgeholt? Ich meine, ein Fachabitur kann man ja auch mit 30 noch machen, wenn man sich finanzieren kann."
"Tja, erstens kann man mit einem Fachabitur nicht Lehrer werden und zweitens braucht man ein sauberes Führungszeugnis, um Lehrer zu werden. Der Traum hatte sich erledigt. Ich war halt zu 1953."
"Aber warum bist du ausgerechnet Maler und Lackierer geworden? Du hättest ja echt mehr schaffen können."
"Ich wusste nicht, was meine Talente sind, weil meine Eltern mich kaum gefördert haben. Sie wollten nur, dass ich lerne und gute Noten schreibe. Das Sprayen auf dem Dach hat mir aber richtig viel Spaß gemacht. Das war tatsächlich das Einzige, was ich von mir selbst wusste. So entschied ich mich, das zu lernen, nachdem ich mir meinen Traumberuf vergeigt hatte..."
"Aha, das ist ja wirklich interessant. Du hast es ganz schön verkackt", lachte mein Sohn.
Wir schwiegen kurz, aber ich wollte ihn aus meinen Fehlern lernen lassen, also ergänzte ich noch ein paar Worte:
"Dir stehen alle Türen offen und deine Mama und ich werden dich bei allem, was du tust, unterstützen. Bitte mache nicht denselben Fehler, den ich gemacht habe! Nutze deine Intelligenz und wirf sie nicht so weg. Probiere dich aus und finde deine Talente! Du kannst es zu Großem bringen. Ein Abitur öffnet dir heutzutage wirklich alle Türen, da kann ein Realschulabschluss einfach nicht mithalten. Du musst ja nicht studieren, aber mit einem guten Abi hast du einfach die besten Chancen bei allem. Ich ärgere mich heute so sehr, dass ich mich nicht noch zwei Jahre zusammengerissen habe, sondern einfach alles hingeschmissen habe. Und du hast recht: Ich hab's verkackt..."
"Sowas passiert mir sicher nicht. Die Oberstufe sind auch nur zwei Jahre und da hau ich mich rein. Und beim Kiffen lasse ich mich ganz bestimmt nicht erwischen... und bei anderen Dingen auch nicht", lachte mein Sohn und ging in sein Zimmer. Ich saß einfach nur da, wie bestellt und nicht abgeholt. Meine Botschaft schien ihn irgendwie nicht so ganz erreicht zu haben.
Auf einmal hörte ich Leute klatschen. Hilfe, war ich tief in meine Erinnerung verfallen. Die Schulleiterin hatte gerade die besten Abiturienten des Jahrgangs vorgelesen und mein Sohn gehörte zu ihnen. Er hat sein Versprechen gehalten. Ich bin so stolz auf ihn. Mir stiegen sogar ein paar Tränen in die Augen, als ich ihn mit seinem Abiturzeugnis auf der Bühne stehen sah. Es tut so gut, zu wissen, dass mein Sohn seine Intelligenz zu nutzen weiß und sie nicht weggeworfen hat - im Gegensatz zu mir.

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