Zu weit oben, um zu denken.
Es fing alles so normal an. Es war ein ziemlich kalter Morgen im September, als James früh zur Schule ging. Wie immer trug er eine schwarze Hose, seine schwarz-grünen Sneakers und seine karierte Jacke. Wie an jedem anderen Morgen musste er auch heute einige Stationen mit der Bahn fahren. Anstatt sich mit seinen Klassenkameraden, die bereits vor ihm eingestiegen waren, zu unterhalten, saß er allein am Fenster und hörte Musik. Obwohl alles so war, wie immer, war heute irgendetwas anders. Er sah heute sehr müde aus und schien schon die ganze Zeit angestrengt über etwas nachzudenken. Auch, als er aus der Bahn ausstieg, wirkte er sehr in seine Gedanken verloren.
In der Mittagspause verließ er, wie sonst auch, die Schule und ging scheinbar zu einer Bank, auf der er sonst auch immer saß, aber er kam bereits nach wenigen Minuten zurück. Sonst saß er dort immer die ganze Pause über, weil er dort allein war und seine Ruhe hatte. Irgendwann musste ihm jemand gefolgt sein, denn sonst hätte das niemand gewusst.
Er steuerte auf das Hochhaus direkt vor unserer Schule zu und ging hinein. Nach wenigen Minuten stand er auf dem Balkon ganz oben. Dieser war für jeden erreichbar, der im Haus war. Er ging bis nach vorn an die Brüstung und lehnte sich erschreckend weit darüber. So blieb er auch eine ganze Weile stehen. Es schien, als ob er irgendetwas analysierte. Dann nahm er irgendetwas aus seiner Jackentasche. Als er sich wieder nach unten lehnte, verstand ich plötzlich, was er vorhatte.
Ich war so schockiert, dass ich nicht wusste, was ich tun sollte. Ich saß gerade mit ein paar Klassenkameraden auf einer Treppe vor der Schule und konnte ihnen natürlich nichts von meiner Vermutung erzählen, also sprang ich auf und sagte, dass ich schnell etwas erledigen musste. Bevor sie weitere Fragen stellen konnten, war ich bereits auf dem Weg. Ich rannte zu dem Hochhaus und zu seinem Glück war die Tür offen. Der Fahrstuhl war im Erdgeschoss und ich fuhr bis in die vorletzte Etage, um durch das separat liegende Treppenhaus nach oben zu gehen, da er mich sonst gesehen hätte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich verhalten sollte, als ich sah, dass er immer noch dort stand und die ganze Zeit nach unten schaute. Vielleicht wollte er wirklich nur die Aussicht betrachten. Doch plötzlich sah er sich um, um sich zu vergewissern, dass ihn niemand sah. Ich stand so, dass er mich nicht sehen konnte. Als er sich unbeobachtet fühlte, setzte er sich auf die Brüstung von dem Balkon mit dem Blick zur Straße und schien immer noch etwas in der Hand zu haben.
Das war ein fürchterliches Gefühl. Ich wusste, dass ihn niemand davon abhalten würde, wenn ich es nicht tat, allerdings kostete es mich auch einiges an Feingefühl, ihn nicht zu erschrecken. Ich hatte jetzt keine Zeit, um nachzudenken und rannte nach oben. Ich öffnete so leise wie möglich die Tür und er schien mich tatsächlich nicht gehört zu haben. Ich sah, dass er anscheinend Musik hörte und irgendetwas machte, aber ich erkannte nicht, was es war. Ich ging einen Schritt nach vorn und sah, dass es eine Spritze war und in diesem Moment wurde mir klar, dass er vorhatte, sich das Leben zu nehmen. Ich stand fast direkt hinter ihm und umarmte ihn, damit er sich nicht nach vorn werfen konnte. Ich schaffte es, die Kopfhörer aus seinem Handy herauszulösen.
„Spring nicht“, sagte ich leise in sein Ohr und zog ihn von der Brüstung auf den Balkon.